Eine ganze Stunde gebe er, Konrad, sich seiner Frau oft nicht als Experimentator zu erkennen, dann sage er aber plötzlich: ich experimentiere, Gehörexperiment I, Anfang, gleich darauf schon die Wörter Luster und Lüster und Laster und mache eine sogenannte Gehörklangfarbenkontrolle. Ist das Ö düster?, frage er, ist das U düster? ist das O düster? Darauf sehr oft das Wort Rinnsal, das reinste. Mit dem Wort Rinnsal experimentiere er an die zehn Jahre, soll er zu Wieser gesagt haben.
Thomas Bernhard wäre heute 80 geworden, und das gibt mir die Gelegenheit zu einer bibliographischen Notiz. Eine besondere Rolle im Roman Das Kalkwerk spielt die sogenannte „urbantschitsche Methode“ zur Gehörbildung, mit der Konrad seine Frau „zu Tode experimentiert“. Wie diese Methode funktioniert (oder zumindest nach Konrads Auffassung funktionieren sollte), kann man an mehreren Stellen des Romans nachlesen. Ich habe mich aber doch gelegentlich gewundert, wer dieser Urbantschitsch war, dessen Name – mit dem gesetzten Urban am Anfang und dem gezischelten Tusch zum Schluß – selbst wie ein Übungswort aus einem Hörexperiment klingt.
Nun, ihren Namen hat die urbantschitsche Methode von Viktor Urbantschitsch (1847-1921), einem Wiener HNO-Arzt, der als ein Pionier der modernen Ohrenheilkunde gilt (was ihm später ein „von“ vor dem Nachnamen einbrachte). Entwickelt hat er sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ausgeführt ist sie in den Grundzügen in seinem Lehrbuch der Ohrenheilkunde (1884); eingehender (und anschaulicher) erläutert er sie in der Schrift Über Hörübungen bei Taummstummheit und bei Ertaubung im späteren Lebensalter (1895). Beide Texte sind im Internet Archive verfügbar.
Urbantschitsch war überzeugt davon, dass Schwerhörigkeit und Taubheit in den weitaus meisten Fällen heilbare Probleme seien, denn „eine thatsächliche vollständige Taubheit [ist] auch unter Taubstummen als selten zu erklären, da gewöhnlich, wenigstens auf einem Ohr, Hörreste nachweisbar sind“. Mangelnde Hörfähigkeit werde vor allem durch eine „Inaktivitätslethargie“ der Hörnerven verursacht. Um diese Lethargie zu überwinden, brachliegende „Hörspuren anzufachen“ und entsprechende „sensitive Perceptionsfelder“ zu aktivieren, entwickelte Urbantschitsch ein detailliertes Übungsprogramm, eine Art Fitnesstraining für die Ohren, das ein sorgfältiges Einüben von Hörleistungen und ein akribisches Aufzeichnen der erzielten Fortschritte möglich machen sollte.
Der Arzt ist demnach ein „Gott unerweckter Ohren“ (wie der Germanist Stefan Rieger schrieb), der mit Akribie und Genauigkeit einen objektiv erfolgreichen Therapie- und Schöpfungprozess einleiten kann. Die Maßnahmen, die Urbantschitsch vorgibt, lassen jedoch schon die Unerbittlichkeit ahnen, die Konrad im Kalkwerk zum Äußersten treibt, bis hin zur körperlichen Überwältigung und Beherrschung des Patienten.
Ich beginne die Uebungen damit, dass ich der taubstummen Person, die bereits vom Munde abzulesen versteht, einen Vocal, gewöhnlich a oder o, laut und gedehnt wiederholt ins Ohr rufe. Im Falle dabei keine Gehörempfindung erregt wird, stelle ich dieselben Versuche mit einem anderen Vocale an. Bleiben auch diese Versuche ohne Resultat, so wiederhole ich sie bei verstärkter Schalleinwirkung, zu welchem Zwecke ich mit beiden Hohlhänden einen Trichter bilde, durch welchen zum Ohre gesprochen wird. Hörrohre wende ich hierzu fast niemals an, da diese die Klangfarbe der Stimme wesentlich beeinflussen, was bei einem durch die Hände gebildeten, weichwandigen Schalltrichter nicht der Fall ist.
[…]
Schwer verständliche Buchstaben müssen besonders eingeübt werden, so auch leicht zu verwechselnde, b und p, d und t, b und d, g und k, ferner z, s, pf u.s.w.
[…]
Dabei bestehen bedeutende individuelle Verschiedenheiten, indem gewisse Buchstaben von einzelnen tauben Personen in kurzer Zeit deutlich verstanden werden, von anderen dagegen erst nach vielen Wochen, selbst Monate langen Uebungen. […] so kann sogar a, wie ich dies aus einigen Fällen ersehe, einen falschen oder gar keinen Höreindruck erregen.
Natürlich kommt es nicht nur auf eine penible Durchführung der therapeutischen Maßnahmen an, sondern auch auf ein genaues Protokoll, das Fortschritte und Ergebnisse objektivierbar macht. Aber der letzte Abschnitt weist schon darauf hin, dass der Prozess der Gehörbildung nicht so einfach zu kontrollieren ist. Fehler können sich einschleichen, die selbst mit der akribischsten Versuchsanordnung nur schwer zu eliminieren sind. So schildert er den Fall eines „fast sprachtauben Mannes“, der „den Satz ‚Heute ist es trüb‘ als ‚Lampe, Fenster, trüb’“ vernahm, „wobei die Worte ‚Lampe‘ und ‚Fenster‘ demselben aus vorausgegangenen Uebungen wohl bekannt waren“.
Das Wort ‚Fenster‘ wiederholt ausgesprochen, wurde als ‚Fenster‘, beim zweitenmale aber als ‚Lampe‘ angegeben, also auffälliger Weise das erstemal richtig, das zweitemal, unmittelbar darauf, falsch gehört, eine Beobachtung, die sich oft vorfindet.
Die Wiederholung eines Experiments, muss Urbantschitsch feststellen, führt nicht notwendigerweise zum jeweils gleichen Ergebnis. Hartnäckigkeit ist gefordert:
Wenn man sich stets vor Augen hält, dass mit der Anfachung der ersten Hörspur möglicher Weise eine weitere Entwicklung des Hörsinnes angebahnt ist, so wird man sich wohl der grossen Verantwortung bewusst sein, die in einem allzufrühzeitigen Aufgeben der methodischen Hörübungen gelegen sein kann, da vielleicht in den betreffenden Fällen bei längerer Ausdauer ein Erfolg möglich gewewsen wäre.
Und auch den körperlichen Tribut spart Urbantschitsch nicht aus:
Ich möchte diesbezüglich besonders darauf aufmerksam machen, dass die acustischen Uebungen grosse Anforderungen auch an die physische Kraft des Lehrers stellen, und dass sich eine schwächliche Constitution diesen Uebungen gewöhnlich nicht gewachsen zeigt.
Über die physische Kraft des Patienten, der den therapeutischen Maßnahmen ausgesetzt wird, sagt Urbantschitsch hier nichts. Immerhin lässt er durchblicken, dass dessen Geduld und Leistungsfähigkeit nicht überbeansprucht werden kann. Dann muss der Arzt auch mit psychologischem Gespür zur Werke gehen.
Die Heranbildung des unterschiedlichen Hörens der einzelnen Buchstaben [bedarf] häufig einer sehr mühevollen und langwierigen Uebung, weshalb auch die Gefahr sehr nahe liegt, dass besonders Kinder diesen Uebungen ein immer geringeres Interesse entgegenbringen und sich diesen schliesslich nur widerwillig unterziehen. […] Es ist daher vom pädagogischen Standpunkte aus sehr wichtig, die Hörübungen baldmöglichst anregender zu gestalten. Dies wird gewöhnlich dadurch erreicht, dass man sobald nur einzelne Vocale und Consonanten verstanden werden, zu leichtfasslichen Wörtern übergeht.
Mit der Zeit ließen sich dann auch „kurze Sätze […] derart einüben und werden nach häufiger Wiederholung immer leichter wiedererkannt, so dass dieses acustische Memoriren ein wichtiges Mittel zur Erwerbung eines Wortschatzes bildet“, schreibt Urbantschitsch.
Wenn er Überbeanspruchung und therapeutischen Exzess ablehnt, dann weniger aus Rücksicht auf den Patienten, sondern weil sich dadurch nicht immer der gewünschte Erfolg produzieren ließe, etwa wenn „der durch eine allzuheftige Schalleinwirkung ausgelöste besonders starke acustische Reiz […] erfahrungsgemäss eine baldige acustische Ermattung nach sich [zieht] und also schädigend anstatt anregend [wirkt]“. Der Arzt ist eine Janusgestalt: Er soll dem Patienten Gutes tun und Heilung bringen, aber in der Erfüllung dieses Auftrags degradiert er den Patienten zum Objekt, das manipulierbar ist, kontrolliert, beherrscht und abgemessen werden muss. Kurz: Der Arzt ist „fürchterlich, gleichzeitig hilfsbereit, Sadist, gleichzeitig fürsorglich“, wie es von Konrad im Kalkwerk heißt.
Aber die Atomisierung der Therapie in Dutzende von Einzelmomenten und -maßnahmen, wie sie Urbantschitsch ganz buchstäblich vornimmt, unterwirft den Arzt auch seiner eigenen Maschinerie, deren Kontrolle ihm entgleitet. Die vielen kleinen Warnungen und detaillierten Hinweise, die er seinen Lesern gibt, entlarven, dass die Materialien, mit denen die Therapie arbeitet – Sprache und Klang – ebensowenig beherrschbar sind wie das soziale Gefüge einer Therapiesituation. Während Urbantschitsch in seinen Lehrbüchern noch darüber hinwegsehen kann, muss Konrad feststellen, dass ihm auch der Exzess nicht dabei hilft, seine Studien zum Abschluss zu bringen.
Er, Konrad, tyrannisiere seine Frau mit unverständlichen Sätzen, die er einmal laut, einmal leise, einmal kurz, einmal lang, abwechselnd in eines ihrer beiden schon auf das Schmerzvollste entzündeten Ohren hineinrede, indem er die Arme, wie auch immer wieder von der Konrad gesagt wird, die von ihm in sie hineingesprochenen Sätze kommentieren lasse bis zur Bewußtlosigkeit. Oft sei die Konrad so erschöpft gewesen, daß sie auf nichts mehr von ihm reagiere, sagen die Leute im Laska, ihr Mann aber habe ihr keine Ruhe gelassen und setzte die sogenannte urbantschitsche Methode ungeachtet ihrer totalen Erschöpfung und also Teilnahmslosigkeit dann immer noch stundenlang, in manchen Nächten bis vier Uhr früh, an ihr fort, et cetera.
Immer wieder laufen die Experimente aus dem Ruder, sie scheitern an der Erschöpfung seiner Frau oder ihrer Renitenz, an widrigen äußeren Umständen und daran, dass es Konrad nicht gelingt, für seine Beobachtungen eine unanfechtbare, an sich stabile Struktur zu finden. Der Versuch, den „Verstand als chirurgisches Instrument gegenüber der sich sonst unweigerlich auflösenden, ja sonst rettungslos zerbröckelnden Geschichts- und Naturmaterie“ zu gebrauchen, führt nur dazu, dass die Materie, an der sich Konrad abarbeitet, noch weiter auflöst und zerbröckelt, während die gesuchte Systematik hinter den zahllosen Lauten, Wörtern und Sätzen, mit denen Konrad seine Frau traktiert, verschwindet: „Wie leicht verzettele sich der Dilettant, komme im Detail um, soll Konrad gesagt haben. Es erfordere eine beinahe übermenschliche Anstrengung, immer gleichzeitig alles zu sehen im Hinblick auf das Gehör.“ Und für übermenschliche Anstrengungen benötigt man mindestens, siehe oben, eine gute Constitution.
Aber natürlich scheitert nicht nur Konrad mit dem Versuch, die urbantschitsche Methode so zu perfektionieren und zu radikalisieren, dass sie „überhaupt nicht mehr als urbantschitsche Methode“ bezeichnet werden könnte. Der Text selbst ist mit seinen Wiederholungen, Variationen und gedanklichen Schleifen so organisiert, als führe da jemand ein Wahrnehmungsexperiment durch, als ließe sich Wahrheit dadurch produzieren, dass möglichst hartnäckig auf ihren Einzelteilen insistiert wird. Und doch ist das, was wir zu hören/lesen bekommen, nur eine Wiederholung, ein Echo, das der Erzähler des Textes aus unzähligen, nicht immer konsistenten und bisweilen interpretierenden statt schildernden Zeugenaussagen montiert. Warum Konrad seine Frau umbringt, lässt sich so nur einkreisen, aber nicht endgültig ermitteln. Im Gegenteil: Je mehr Indizien vorgeführt und je mehr Spuren angefacht werden, umso mehr scheint die Tat auch zu entgleiten:
Mir geht es um eine durch und durch aufschlußreiche Schrift, soll Konrad gesagt haben, mit dieser Schrift sei ein Endpunkt zu setzen, ein Endpunkt, der natürlich in dem Augenblick, in welchem er gesetzt ist, kein Endpunkt mehr sein kann und so fort.
Urbantschitschs Idee einer rein auf physiologischem Wege, durch sportliche Trainingsmaßnahmen wiederherstellbaren und verbesserbaren Hörfähigkeit, blieb übrigens nicht lange ohne Widerspruch: Schon sein Zeitgenosse Friedrich Bezold (1842-1908) ging davon aus, dass „was an Gehör nicht vorhanden oder verloren gegangen ist durch keine Therapie, auch nicht durch Hörübungen wiedergewonnen werden kann“, und suchte darum eher nach Therapie- und Behandlungsmethoden, die die jeweiligen Voraussetzungen des Patienten berücksichtigen, anstatt ihn an ein universales Maß angleichen zu wollen. Versatzstücke der urbantschitschen Methode finden sich aber hier und da noch in Behandlungs- oder Erziehungsempfehlungen.
Ein kleines Postskript: Objektive und meßbare Wege zur individuellen Vervollkommnung proklamierte übrigens auch der Sohn Viktor von Urbantschitschs, wenn auch auf einem ganz anderen Terrain: Rudolf Urbantschitsch (das „von“ fiel mit dem Ende der k.u.k.-Monarchie weg) war Psychoanalytiker und gehörte zeitweise zur Mittwochsgesellschaft Sigmund Freuds. Er galt allerdings eher als Popularisierer, wenn nicht gar Trivialisierer der Psychoanalyse, und seine populärwissenschaftlichen Schriften zur Modernen Kindererziehung oder zur Selbsterkenntnis mit Hilfe der Psychoanalyse machten ihn für einige Wissenschaftler eher zur persona non grata. Während des Dritten Reichs emigrierte er in die USA, trug dort einiges zum Aufschwung der Psychoanalyse bei und verfasste nach dem Krieg unter dem Namen Dr. Rudolf von Urban das Buch Sex Perfection and Marital Happiness. Vermutlich ein frühes Standardwerk über den Weg zum tantrischen Glück, zu dem die englische Wikipedia folgendes zu berichten weiss: „The findings of his research indicate that improved over-all health and well-being are a result of engaging in ‚Sex Perfection‘.“ Ob diese Perfektionierung eine ähnliche Akribie voraussetzt wie das Hörtraining seines Vaters, oder ob sie vielleicht doch eher den Methoden des Dr. Hugo Zuckerbrot ähnelt, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Ein weiterer erwähnenswerter Nachfahre ist der Enkel Viktor Urbancic, Komponist, Dirigent und Pianist, den es 1938 in ein ungewöhnliches Exil verschlug, nämlich nach Island (wo er die slowenische Schreibung des Familiennamens annahm). Dort leistete er auf seine Art akustische Pionierarbeit: Er gilt als Begründer der professionellen Orchester- und Konzertlandschaft auf der Insel. Schreibt zumindest sein Enkel Johann Kneihs, Redakteur der ORF-Sendung Spielräume und Autor eines biographischen Beitrags über seinen Großvater, der am 28. Februar 2011 ausgestrahlt wird.
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