Eine Reise in Polen


So beginnt eine Reise:

Im langen Eisenbahnwagen schaukle ich über die Schienen. Der Zug ist wie ein Pfeil von Berlin losgelassen. Der Schienenstrang ist unendlich. Nun schieße ich, schaukle mit Holz- und Eisenwerk, in einer gurgelnden Röhre, in die Nacht hinein.

Aber dann:

Ich – bin nicht da. Ich – bin nicht im Zug. Wir prasseln über Brücken. Ich – bin nicht mitgeflogen. Noch nicht. Ich stehe noch am Schlesischen Bahnhof.

Da verreist einer, der, so scheint es, gar nicht wirklich unterwegs sein möchte. „Ich bin gefangen. Der Zug trägt mich fort“, schreibt er, und seine Gedanken kommen kaum hinterher: „Ich denke an meine Absichten. Aber es sind jetzt nicht meine Absichten, ich erkenne sie nicht.“

Alfred Döblin ist der Name des Mannes, der da „auf dem grünen Polster, zwischen Lederkoffern, Handtaschen, Plaids, Mänteln, Schirmen“ sitzt. Döblin, der sich nur selten, ohne es zu müssen, aus Berlin fortbewegte, hat sich ausnahmsweise auf eine lange Reise begeben. Gut zwei Monate wird er in Polen verbringen und darüber ein Buch schreiben, Reise in Polen. Es ist das Jahr 1924, was wir aus dem Text selbst allerdings ebenso wenig erfahren wie den Anlass der Reise. Erst 25 Jahre später wird er in seiner Autobiographie, die sinnigerweise Schicksalsreise heißt, erzählen, was ihn ins östliche Nachbarland brachte.

In Berlin kam es „in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre [zu] pogromartigen Vorgängen, im Osten der Stadt, in der Gollnowstraße und Umgebung“, und „der Nazismus [stieß] seinen ersten Schrei aus“. Im November 1923 hatte ein aufgehetzter Mob durch die Straßen des Scheunenviertels randaliert und jüdische Passanten (oder wer nach Meinung des Mobs danach aussah) angegriffen und misshandelt. Ereignisse, die zeigten, dass Antisemitismus kein sterbendes Phänomen war, das sich mit fortschreitender Assimilierung der Juden von selbst erledigen würde (wie Döblin selbst noch im Deutschen Maskenball gehofft hatte).

Das Novemberprogrom war für ihn Anlass, sich ausführlicher mit der elterlichen Religion auseinander zu setzen als er es bisher getan hatte: „Ich fand, ich müßte mich einmal über die Juden orientieren“. Aber in seinem Umfeld scheint es niemanden zu geben, der ihm dabei eine Hilfe sein könnte.

Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren.

Der Prozess der Assimilation, auf den Döblin zuvor noch gesetzt hatte, erweist sich ihm jetzt als durchaus ambivalenter Prozess: Die „neue Umgebung“ ist ein fragiles Zuhause, das nicht vor Ausgrenzungen und Ausschreitungen schützt. Aber die Identifikation mit der Rolle, die einem nominell zugewiesen wird, gelingt auch nicht mehr, weil dafür nur noch „Reste“ zur Verfügung stehen.

„Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: In Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren.“ Die Reise, zu der Döblin aufbricht, ist eine Art anthropologische Exkursion in eigener Sache. In keinem Land Europas leben damals so viele Juden wie in Polen: Sie machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus, in manchen Städten sogar gut ein Drittel. Warschau ist nach New York die Stadt mit den meisten jüdischen Einwohnern. In Polen hat sich ein überaus reichhaltiges jüdisches Leben entwickelt, aufgefächert in unzählige geistige, religiöse und kulturelle Richtungen. Aus der Distanz hat Döblin diese Vielfalt schon bewundert: Im Frühjahr 1924 schwärmt er in einem Vortrag über Zionismus und westliche Kultur gar vom Ideal einer „jüdischen Ostrepublik“, da Palästina „unpraktisch für die Lösung der ganzen Judenfrage“ sei.

So fährt er nach Polen, um sich vor Ort einmal umzuschauen. Aber es ist eine schwierige Reise, und er kommt, merkt man, in den Städten, die er besucht, nie richtig an. In den jüdischen Gemeinden, die er besucht, begegnet man ihm eher distanziert, bisweilen gar mißtrauisch und feindselig. Die Sprachbarriere macht es ihm schwierig, Kontakte zu knüpfen, und es ist bezeichnend, das die meisten Gesprächspartner, die er zitiert, anonym bleiben. „Wie gerne würde ich mehr Polnisches, mehr Litauisches, mehr Russisches sehen“, klagt er in Wilna. „Aber die Sprache behindert mich. Und man führt mich wenig. Außerhalb Warschaus werde ich so schlecht behütet.“ Und ihm „fällt ein, es wäre ein Fortschritt, wenn man vereinbarte: in allen Ländern lehren die Schulen als zweite Sprache neben der Landessprache ein und dieselbe: überall Englisch, Esperanto, oder was man will“.

Es ist der Besuch in einem jungen Land, das selbst auf der Suche nach seiner Identität ist: Erst seit 1918 ist Polen wieder ein eigenständiger Staat, ein wiederauferstandener Phönix, der noch auf wackligen Beinen steht und seine Rolle nach innen und außen definieren muss. Döblin staunt über das „ungeheure organisatorische Werk von maßloser Schwierigkeit“, das der junge Staat zu leisten habe, und beobachtet „eine stolze Freude, das Werk zu bewältigen. Eine Freude, die ich heftig mitfühle“. Andererseits bemerkt er auch die Widersprüchlichkeiten, Inkonsequenzen und Nervositäten, die dieser Prozess an den Tag bringt. Lange genug haben sich die Polen als das Schmerzensvolk Europas gefühlt, als unterdrückte Minderheiten in den Ländern, auf die sie verteilt waren – jetzt haben sie einen Staat bekommen, in dem es seinerseits Minoritäten gibt, die auf ihre Selbstbestimmungsrechte pochen. Es ist die Geschichte aller revolutionären Prozesse: Wenn das Ideal zur Realität geworden ist, kommen im Alltag eben auch „alle Attribute eines gewöhnlichen Lebewesens“ zum Vorschein – auch der „fürchterlicher Appetit des Hungrigen und die Gedankenlosigkeit, die zu Dyspepsie und Durchfällen führt“.

Ein exemplarischer Streit wird beispielsweise um den Aufbau einer ukrainischen Universität geführt: Der polnische Staat will sie den Ukrainern durchaus zugestehen, aber gerade nicht in Lemberg, wo das geistige Zentrum der polnischen Ukraine liegt, sondern lieber weiter weg in Krakau, weil dort die Gefahr einer Fraternisierung mit lokalen Nationalisten nicht so groß sein dürfte.

1922, zwei Jahre vor Döblins Reise, wurde der erste frei gewählte polnische Staatspräsident Gabriel Narutowicz auf dem Weg zur Vereidigung von einem Attentäter erschossen. Nationalistische Kreise hatten Narutowicz ins Visier genommen, weil er zu seiner Wahl auch die Stimmen von nichtpolnischen Abgeordneten in Anspruch nahm. „Es war eine Antwort auf die Frage: wer in Polen herrschen soll, eine Staatsnation oder ein Konnubium von Völkern. Der Schuß entschied für die Staatsnation“, sagt Döblin.

[Polen] ist ein Jahrhundert unterjocht gewesen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit hat es erhalten. Jetzt zeigt es – trotz allem wie verständlich – eine Überempfindlichkeit im Nationalen. Es ist völlig wie ein Mensch der einen Unfall erlitten hat und unter einer Schreckneurose steht. Aber gerade Polen, von Minoritäten, Wirtschaftselend, starken Nachbarn bedrängt, muß, um stabil zu werden, zu klugen und modernen Lösungen kommen. Es wird nicht anders stabil.

Ein erster Schritt zu einer modernen Lösung wäre, den Staat nicht zu wichtig zu nehmen, vor allem nicht als Verkörperung eines Volkswillens oder einer Nationalität:

Der Staatsbegriff von heute ist zu erweichen. Zu banalisieren. Die Grenzen selber eine Tyrannenmacht. […] Das Leben der Völker hat in dieser Epoche längst die politischen Grenzen überlagert. Der alte Staat steht noch dazwischen, dick, selbstgefällig und bewundert, ein abgelebter Mammut, ein träger Ichthyosaurus, den die Gehirne von heute beseitigen müssen. Aber dringender ist der Einzelmensch, das Ich, anzurufen.

Die Geschichte der Moderne ist für Döblin vor allem die einer zerstörerischen Dynamik, allerdings nicht nur im negativen Sinne: Alte, überlebte Ordnungen sind zusammengebrochen und verschwunden. Dadurch sind Freiräume entstanden, aber diese mit neuen Formen und Strukturen zu füllen, ist eine langwierige Aufgabe:

Man wird noch lange schreien über Materialismus. In ihm ist Leere; wer sieht es nicht. Aber in dieser Leere kündigt sich die Zukunft an; darum mag ich das romantische Geschrei nicht. Man wird das Unkraut zur Zeit unter die Füße bekommen und zertreten. Viel länger braucht das neue Denken, um Erkenntnis und Gefühl zu werden, als um Maschine zu werden.

Das „neue Denken“ muss, wenn es mehr als eine zerstörerische Maschine sein soll, an die Essenz menschlicher Existenz gebunden sein. Worin die besteht, erschließt sich Döblin in der Betrachtung des gekreuzigten Jesus in der Marienkirche von Krakau:

Leid ist in der Welt, Schmerz, menschlich-tierisches ringendes Gefühl ist in der Welt. Das ist der tote Mann oben, Christus. Seine Wunden, seine Hinrichtung, seine durchbohrten Knochen. Entsetzen geht von ihm aus. […] Schrecklich: und das ist überall angeschrieben in den Kirchen, das Geheimnis so offen, alle können es lesen. Man muß Buntheit, Schönheit herum tun, um es zu ertragen.

Das bunte, vielfältige, widersprüchliche jüdische Leben, das er in Polen betrachtet, scheint ihm wesentlicher von dieser Essenz durchdrungen zu sein als die politischen und materiellen Ambitionen seiner jüdischen Landsleute in Deutschland. Gerade weil den Juden über Jahrhunderte ein eigener Staat versagt blieb, haben sie ihr Selbstverständnis auf anderen Wegen formuliert, in der Religion, der Auslegung, der Mystik:

Ich habe [dieses Volk] nicht gekannt, glaubte, das, was ich in Deutschland sah, die betriebsamen Leute wären die Juden, die Händler, die in Familiensinn schmoren und langsam verfetten, die flinken Intellektuellen, die zahllosen unsicheren unglücklichen feinen Menschen. Ich sehe jetzt: das sind abgerissene Exemplare, degenerierende, weit weg vom Kern des Volkes, das hier lebt und sich erhält. […] Was ging in diesen scheinbar kulturarmen Ostlandschaften vor. Wie fließt alles um das Geistige. Welch ungeheure Wichtigkeit mißt man dem Geistigen, Religiösen zu. Nicht eine kleine Volksschicht, eine ganze Masse geistig gebunden. In diesem Religiös-Geistigen ist das Volk so zentriert wie kaum ein anderes in seinem.

Die Assimilations- und Integrationsbemühungen der westeuropäischen Juden erscheinen hier als eine Form der Degeneration, weil sie sich allein nach den materialistischen Maßstäben richten, die die kapitalistische Gesellschaft vorgibt. In Polen dagegen scheinen die Juden eine notwendige Distanz zu diesen Maßstäben gewahrt zu haben, einen bewussten „Verzicht auf Land und Staatlichkeit“. So sind sie zum „Volk, das den Tempel in sich trägt“ geworden.

Die echtesten Juden warten schon lange nicht mehr auf den „Staat“. Man kann sich nur im Geistigen erhalten, darum muß man im Geistigen bleiben. Das Politische kann nicht das Himmlische erfüllen, Politik schafft nur Politik.

Döblin mokiert sich darum auch über die „jüdischen Aufklärer“, die ihrerseits „über die ‚dummen, rückständigen‘ Leute ihres eigenen Volks“ lachen, aber nicht mehr einfordern können als politische Emanzipation. Diese „aufgeklärten Herren“ machen auf ihn

den Eindruck von Negern, die mit den Glasperlen paradieren, die ihnen die Matrosen schenken, mit den schmutzigen Stulpen an ihren schlenkernden Armen, mit dem eingebeulten, funkelnagelneuen Zylinder auf dem Kopf. Wie arm, wie schäbig, unwürdig und seellos verwüstet die westliche Welt ist, die ihnen diese Stulpen schenkt: woher sollen sie es wissen.

Er „schlürft“ lieber die Geschichten und „alten Märchen“ von wundertätigen Rabbis und chassidischen Mystikern, besucht alte Synagogen und schwärmt vom „alten Glauben einer Verbundenheit, ja Identität von Wort und Realität“, vom „Ausfluß eines mystischen Gefühls“. Es scheint hier, als ob er dem polnischen Judentum eine ähnliche Rolle zuweisen wolle, wie sie die Romantik den Deutschen zusprach, indem sie das deutsche Nationalbewusstsein in der Kultur, nicht in der Politik, entfaltet sehen wollte. Aber das polnische Judentum ist für Döblin keine geistige Avantgarde oder dergleichen: Es ist den Juden nur gelungen, unter den besonderen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in Polen und Osteuropa eine heterogene und vielfältige kulturelle Substanz zu bewahren, die über einen bloßen politischen Pragmatismus und Materialismus hinausweist. Die Zukunft der Welt, zitiert er einen „jungen jiddischen Literaten“, liege nicht in der Gründung eines Staates, wie der Zionismus es fordere:

Sie werden Soldaten, Staatsmänner und Industriearbeiter stellen; die wird die Welt dann mehr haben. Aber Spinoza, Bergson werden sie nicht züchten. […] Die Welt muß aufgemenscht werden. […] So wird auch die jüdische große Schwierigkeit behoben werden. Ohne Zerstörung der Substanz.

Eine trügerische Hoffnung: Döblins Reisebericht erzählt von einer untergegangenen Welt. 1939 geht die zweite polnische Republik nach dem deutschen Überfall unter. Polen mußte ein weiteres Mal wiederauferstehen, und dabei wurde es gleich noch ein paar hundert Kilometer nach Westen verschoben. Einige der Städte auf Döblins Route sind längst nicht mehr polnisch. Wilna, Lemberg, Drohobytsch, andere sind es seither geworden, wie auch sein Geburtsort Stettin.

Das jüdische Leben in Polen ist hingegen fast vollständig vernichtet. Mit Beklemmung denkt man beim Lesen von Döblins Reisebericht daran, dass viele der Menschen, die er beobachtet – die Passanten, Gläubigen, Schüler, Kaufleute, Künstler, denen er unterwegs begegnet – vermutlich nur wenige Jahre später in deutschen Konzentrationslagern ums Leben kommen werden. Die „Aufmenschung“, die Döblin sich wünschte, die Schaffung einer humanen Gesellschaft, in der sich religiöse und nationale Grenzen überwinden ließen, ging im nationalsozialistischen Terror der Entmenschung zu Grunde.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert