Der Kapitalismus, schrieb Walter Benjamin, ist eine Religion, denn er dient „essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“. Es hat also seine Berechtigung, wenn Kaufhäuser als Tempel des Konsums bezeichnet werden. Ganz besonders interessant wird es, wenn ein Kaufhaus in die Hülle einer Kirche schlüpft und ein sakraler Raum als Kulisse moderner Konsumrituale dient.
Die Suche nach Thomas Bernhards Geburtsort ermöglichte auch einen kurzen Zwischenstopp in Maastricht und einen Besuch in der Buchhandlung Dominicanen, die sich in der ehemaligen Kirche eines Dominikanerklosters befindet. Die Eröffnung vor ein paar Jahren sorgte für einiges Aufsehen, auch in deutschen Medien, und der Guardian wählte sie immerhin zu einem der schönsten Buchgeschäfte der Welt. Ich hatte schon seit langem vorgehabt, dort einmal vorbeizuschauen, und wie sich herausstellte, wäre ich fast zu spät gekommen. Dominicanen hat nämlich turbulente Zeiten hinter sich. Die selexyz-Kette, zu der die Buchhandlung ursprünglich gehörte, gibt es nicht mehr: Sie ging im Frühjahr 2012 in Insolvenz, wurde von einer Investorengruppe aufgekauft und fusionierte im vergangenen Jahr mit einer anderen großen Kette (De Slegte) unter dem Namen Polare. Eine Fusion, die nicht lange Bestand hatte, sondern schon im Januar ebenfalls Insolvenz anmelden musste. Die meisten Polare-Läden machten daraufhin dicht, auch Dominicanen war eine Zeit lang zu. Seit einigen Wochen hat man nun doch wieder geöffnet, auch dank einer erfolgreichen Facebook- und Crowdfunding-Kampagne, für die eigens ein entsprechendes Glaubensbekenntnis formuliert wurde, und versucht es nun in Eigenregie.
Die Dominikanerkirche hat selbst eine lange und bisweilen ebenfalls turbulente Geschichte vorzuweisen. Erbaut wurde sie Ende des 13. Jahrhunderts und gehört damit zu den ältesten bestehenden Kirchenbauten der Niederlande. Sie liegt in unmittelbarer Nähe des Vrijthof, des bekanntesten und belebtesten Platzes von Maastricht. Der Name des Platzes klingt wie das deutsche Wort „Friedhof“, und tatsächlich haben beide Wörter auch den gleichen Ursprung, aber eine unterschiedliche Bedeutung. Ursprünglich bezeichnete man damit abgezäunten (eingefriedeten) Platz um ein Gebäude, in den Niederlanden später vor allem den Vorplatz einer Kirche. (Ein „Friedhof“ heißt im niederländischen dagegen entweder „kerkhof“ oder schlicht „begraafplats“). In Maastricht gehörte der südliche und westliche Teil des Vrijthofes zum Immunitätsbezirk von Maastrichts Hauptkirche, der Servatiuskirche, die als das älteste existierende Kirchengebäude der Niederlande gilt und gemeinsam mit der daneben liegenden Johanneskirche (Sintjans) das markanteste Monument, den sogenannten „Kirchenzwilling“ (kerkentweeling), bildet. Archäologische Untersuchungen haben allerdings ergeben, dass der Vrijthof in römischer und merowingischer Zeit tatsächlich auch als Begräbnisstätte diente.
Predigerorden bauten ihre Kirche gerne an größeren Plätzen, wo sich viel Volk versammeln ließ. Die Dominikanerkirche liegt allerdings nicht direkt am Platz selbst, sondern etwas versteckt hinter dem Eingang zur Grote Straat. Angeblich wollten die Kanoniker der Servatiuskirche nicht zulassen, dass die Dominikaner unmittelbar am Platz eine Kirche bauten, darum musste man auf den etwas zurückgesetzten Ort ausweichen. Vielleicht waren die Kanoniker etwas misstrauisch ob der Aktivitäten der Dominikaner, die zum Zeitpunkt der Erbauung noch eine relativ junge Gemeinschaft waren und deren strenges Armutsgelübde nicht bei allen Klerikern auf Sympathie stieß.
Das Maastrichter Dominikanerkloster entwickelte sich bald zu einem bedeutenden religiösen und theologischen Zentrum. Eine Unterbrechung gab es in den Jahren des spanisch-niederländischen Krieges: 1577 wurde die Kirche geplündert und stark beschädigt, erst 1620 konnte das Kloster von den Dominikanern wieder bezogen werden. 1796 mussten sie jedoch endgültig weichen: Die napoleonischen Truppen lösten das Kloster auf, konfiszierten die Gebäude und nutzten die Kirche als Depot. Auch nach dem Abzug der Franzosen diente die Kirche nur noch sporadisch als Gotteshaus. Sie wurde Eigentum der Stadt und fand in den folgenden Jahrzehnten ganz unterschiedliche Verwendungen: Als städtisches Archiv, Orchester- und Proberaum, Ausstellungs- und Veranstaltungshalle, zuletzt – vor Eröffnung des Buchgeschäftes – sogar als Fahrradparkhaus. (Die übrigen Klostergebäude wurden vor allem von schulischen Einrichtungen genutzt und 1960 abgerissen.)
2005/6 schließlich Restaurierung und Umbau im Namen der Buchhandelskette Selexyz. Dabei wurde, heißt es, großer Wert darauf gelegt, dass Charakter und Substanz des Gebäudes möglichst wenig beeinträchtigt würden. Das erste, was auffällt, wenn man vor der Kirche steht, ist, dass dankenswerterweise darauf verzichtet wurde, Werbeschilder aufzuhängen. Einziges modernes Element der Fassade ist ein auf- und zuklappbares Portal, auf dem man bei genauem Hinsehen noch den Namen Selexyz erkennt). Im aufgeklappten Zustand (während der Geschäftszeiten) wirkt es etwas bullig, zugeklappt sieht es aus wie ein vergessener Archivschrank. Das Fehlen jeglicher Außenwerbung kann natürlich auch mit den aktuellen Entwicklungen zusammenhängen, aber dadurch bleibt die Klarheit und Dynamik der gotischen Fassade weitgehend gewahrt.
Drinnen ist es den Architekten Merkx + Girod auf beeindruckende Weise gelungen, den Raum des Kirchenschiffs effizient auszunutzen und trotzdem die räumliche Wirkung beizubehalten. Die linke Seite des Schiffs ist lediglich ebenerdig mit Podesten und Regalen möbliert, in die rechte Seite wurde dagegen eine Art begehbares Bücherregal („boekenflat“) gebaut, in dem man auf schmalen Treppen zwischen Säulen und Bögen von Ebene zu Ebene steigt. Von den oberen Etagen hat man einen ganz besonderen (und so nur in wenigen Kirchen möglichen) Blick über den Innenraum und kommt außerdem den Deckenfresken (17. Jhd.) ganz nah, die während des Umbaus entdeckt und restauriert wurden. Am reizvollsten ist das Ambiente im rechten Seitenschiff, wo man direkt unter den gotischen Spitzbögen in den ausliegenden Büchern blättern kann. Das Bücherregal ist im übrigen so konzipiert, dass man es – wie auch die anderen EInrichtungsgegenstände – zurückbauen könnte, ohne Spuren zu hinterlassen, falls das Gebäude wieder einer neuen Nutzung zugeführt werden sollte. Die Grabplatten im Fußboden allerdings werden bis dahin von den vielen Kundenfüßen vermutlich komplett blank geschubbert sein.
Der Chorraum wurde zu einem Café umgestaltet, mit einem langgezogenen, kreuzförmigen Tisch an Stelle des Altars, bestrahlt von einem heiligenscheinartigen Kronleuchter. Die Atmosphäre ist allerdings weniger beschaulich als vielmehr trubelig und geschäftig (wir waren an einem Freitagnachmittag da). Für Besinnlichkeit oder Meditation ist in der Kirche kein Platz mehr (auch wenn die entsprechenden Ratgeber natürlich im Angebot sind oder gerne besorgt werden können). Das hier ist kein Tempel des Wissens, sondern eine Lagerhalle für Information und Entertainment, ein Umschlagplatz für bedruckte Waren. Man kann ein wenig erahnen, wie es hier in den konfiszierten Kirchen der napoleonischen Zeit zugegangen sein muss, als dort Pferde gestriegelt und beschlagen oder Waffen inventarisiert wurden.
So ein interessanter Raum hätte natürlich auch einen interessanten Inhalt verdient. Leider unterscheidet sich das Angebot von Dominicanen unterscheidet nicht so wesentlich von dem, was die großen Buchsupermärkte überall in Europa anbieten: Bestseller, Stapeltitel, modernes Antiquariat, ein paar Regionalia als besondere Note. Aber irgendwie muss die Jahresmiete von angeblich 160.000 Euro auch rein kommen. Die bisherigen Konzepte scheinen sich ja nicht wirklich gerechnet zu haben. Bezeichnend übrigens, dass die Zeitschriftenständer nur mäßig befüllt waren: Möglicherweise trauen die Lieferanten dem Neustart auch noch nicht so ganz.
Etwas verloren steht auf der einen Seite der Kirche eine Informationstafel zu Thomas von Aquin, dessen Leben auch auf den Deckenfresken dargestellt wird. Die wurden übrigens erst während des Umbaus zur Buchhandlung wieder entdeckt und restauriert. Von dort oben schaut er etwas grimmig auf das Treiben zu seinen Füßen. Vielleicht würde er gerne die Playboy-Hefte mit einem Feuereisen aus dem Zeitschriftenregal verjagen. Oder es kommt ihm alles, was er selbst geschrieben hat, wie ein Strohhalm vor angesichts der Stapel an bedrucktem Totholz unter ihm.
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