The Good, The Bad & The Taggy


In der aktuellen De:bug gibt es eine kompakte Zusammenfassung der Ansichten von Clay Shirky, eines der wichtigsten Theoretiker der Folksonomien, und da kann man noch mal ganz nüchtern, jenseits von Hype und Hysterie, nachlesen, was den Sinn und Unsinn von Tags so ausmacht.

Das Kernargument Shirkys ist ja bekannt und hat durchaus was für sich, nämlich statt hierarchisierender Ordungsprinzipien, die keine Schnittmengen zulassen, ein assoziatives und kombinatorisches Denken einzuführen. Um Dinge zu katalogisieren, benötigt man kein abgestuftes System von Über- und Unterordnungen, flexible Begriffspaare und -ketten reichen völlig aus. Mehr noch:

Ich kann in diesen [neuen Ordnungssystemen] meine Weltsicht einbringen und dabei gleichzeitig sehen, was andere Menschen glauben.

Das ist ein janusköpfiger Satz, weil er zugleich die Vor- und Nachteile benennt. Zunächst einmal: Tags bieten mir die Möglichkeit, einen Gegenstand in einem assoziativen Raum („meine Weltsicht“) zu umschreiben, statt ihn an einem festen und vorgegebenen Punkten verorten zu müssen. Nicht „x ist gleich y“, sondern „x hat was von y und von z (und teilweise auch von a und von b)“. Manche finden das chaotisch, aber tatsächlich organisieren wir ja viele unserer Erfahrungen nach solchen assoziativen Mustern.

Organisieren ist aber etwas anderes als einordnen, und tatsächlich könnte man sich fragen, ob es sich beim Tagging wirklich noch um ein Ordnungssystem handelt, und ob man nicht mit den Stichworten zugleich auch die Dinge selbst in Bewegung bringt. Das klingt eher nach einer epistemologischen Frage als einer praktischen, und man muß ein bißchen ausholen, um die Problematik zu verdeutlichen.

In der Diskussion um Tags werden zwei Aspekte gerne übersehen. Einmal werden Tags oft so behandelt, als ob sie eine Art Spielgeld wären, in dem jede Münze den gleichen Wert und das gleiche Gewicht hat. Es gibt zwar tagclouds, die grafisch veranschaulichen wollen, wo sich bestimmte Interessen ballen, aber die bieten eine rein quantitative Analyse: Die dicksten Tags sind einfach da, wo sich das größte Häufchen an Spielgeld befindet. Andere assoziative Elemente – emotionale, soziale, alltägliche – bleiben außen vor.

Das mag nun eine untergeordnete Rolle spielen, so lange ich mir selbst meine Links, meine CDs oder meine Bibliothek archiviere. Komplizierter ist die Frage, ob das so ohne weiteres auf soziale Netzwerke zu übertragen ist. Auf den ersten Blick würde man wohl sagen: Ja. Wenn ich bei Flickr auf ein Tag namens „Kölner Dom“ klicke, komme ich direkt zu einem entsprechenden Bild. Tagging ist also effizient: Man findet schnell etwas. Aber findet man auch das Richtige? Was für eine komische Frage, könnte man da einwenden, was ist denn das Richtige? Das ist genau der Punkt: Tags sind praktisch, wenn mir die nächstbeste Antwort weiterhilft. Wenn ich es genauer wissen will, muß ich dann doch wieder mehrere Tags bündeln, und der Aufwand ist nicht unbedingt geringer, als wenn ich ein System von Kategorien und Hierarchien hinabsteige. (Das ist ja auch der Grund, warum Websites wie Flickr, Technorati oder Digg nicht auf Klassifizierungen verzichten und das dann auch noch mit Labels wie „most authority“ versehen.)

Übersehen wird auch gerne, dass es Tags nicht ahistorisch sind: Wenn es sich dabei tatsächlich, wie Shirky sagt, um „meine Weltsicht“ und „das, was andere Menschen glauben“ handelt, dann ändern sich die Tags mit mir und mit ihnen. Flickr nennt seine Darstellung der beliebtesten Tags nicht ohne Grund zeitgeist. Wie entwickeln sich Folksonomien auf lange Sicht? Ist das ein organisches Fortentwickeln, oder gibt es da Risse und Sprünge? Und wie gut kann man solche abgelebten Folksonomien später noch nachvollziehen?

Shirky sieht Folksonomien als ein basisdemokratisches Strukturierungsprinzip betrachtet, demokratischer jedenfalls – so das Argument – als die vorherrschenden Ordnungsstrukturen. Er benutzt gerne das Beispiel des Begriffs queer studies, der im offiziellen Diskurs des amerikanischen Wissensschaftssystems keinen Platz hätte. Und hat insofern recht, als sich über Tags auch subversive oder unorthodoxe Begrifflichkeiten einschleusen lassen.

Wenn die im offiziellen Diskurs aber bisher keinen Platz gefunden haben, liegt das nicht unbedingt daran, dass der hierarchisch verfaßt ist, sondern an den Machtstrukturen, die den Diskurs kontrollieren. Umgekehrt ist ja nicht gesagt, dass folksonomische Netzwerke, nur weil sie ohne Verabredungen auskommen, frei von Macht- und Unterwerfungsritualen sind. Wer seinen Artikel für Technorati taggt, ordnet der sich nicht freiwillig in irgendeine grade kursierende Meme ein? Und wenn del.icio.us Vorschlagslisten für Link-Tags unterbreitet, heißt das nicht, dass man offenbar dem Assoziationsvermögen der Nutzer doch nicht so ganz traut? Am Ende wählen alle doch nur die beliebtesten Tags, und das System kreist um sich selbst.

Tags sind weder gut noch schlecht, sie sind für manche Zwecke ganz brauchbar, für andere nicht. Weisheit oder Wahnsinn der Masse? Warum nicht einfach: Pragmatismus.

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5 Antworten

  1. Schöner Eintrag. Hast du Lust, den Satz „Die dicksten Tags sind einfach da, wo sich das größte Häufchen an Spielgeld befindet. Andere assoziative Elemente – emotionale, soziale, alltägliche – bleiben außen vor.“ mal zu erläutern, ich verstehe da irgendwie nicht, warum emotionale,… Assoziationen außen vorbleiben sollten, bzw. was du damit meinst?

  2. Wenn ich ein Bild bei Flickr einstelle, kann ich dazu ein paar Tags hinzufügen. Nachher sehen die alle gleich groß aus und sind einfach alphabetisch aufgelistet. Ich kann nicht unterstreichen oder betonen, was mir besonders wichtig ist.

    Mag sein, dass das für das bloße Sortieren und Auffinden keine so große Rolle spielt. Es könnte aber wichtig sein, wenn Folksonomien auch für andere Prozesse der Interaktion und Kommunikation als Basis dienen müssen: Wenn man nur noch das gelten läßt, was sich in der Schnittmenge befindet, oder wo in der Tagcloud der größte Knubbel sitzt, und alles andere unter den Tisch fallen läßt.

    Sorry, wenn das etwas abstrakt klingt, wenn mir ein konkretes Beispiel einfällt, versuch ich das noch mal zu erläutern.

  3. Zu abstrakt klingt es nicht, aber warum was unter den Tisch fallen sollte verstehe ich immer noch nicht. Beim Weiterprozessieren von Tags in anderen Kontexten ist man ja nicht gezwungen sich auf die ‚most popular‘ Tags zu beschränken (auch wenn die doch rel. gut funktionieren). Qualifizierende Tags funktionieren aggregiert auch gar nicht so schlecht (zumindest funny, cool, interesting, daily und ein paar andere sieht man oft bei den recommended tags) und auf einer per User Basis (auf dessen Terminologie man sich dann halt einstellen muß) kann man das dann quasi als Facette verwenden.

    2mal Senf noch:

    „Wer seinen Artikel für Technorati taggt, ordnet der sich nicht freiwillig in irgendeine grade kursierende Meme ein?“

    – aber das bedeutet doch gleichzeitig, dass es einen Tag-Raum gibt, der eben funktioniert (ich sollte das wohl ‚ajax‘ taggen, obwohl ich das für einen Hype halte und lieber ‚XMLHttpRequest‘ schreiben würde) ((und das schliesst aber trotzdem nicht aus, dass man nicht auch seine eigenen Assoziationen und Begrifflichkeiten verwendet.)) und dieser Raum aktualisiert sich ständig neu via Selbst- und Kollektivbeobachtung.

    „Und wenn del.icio.us Vorschlagslisten für Link-Tags unterbreitet, heißt das nicht, dass man offenbar dem Assoziationsvermögen der Nutzer doch nicht so ganz traut? Am Ende wählen alle doch nur die beliebtesten Tags, und das System kreist um sich selbst.“

    – das stimmt (soweit ich das beurteilen kann) auch nicht so ganz. Ein paar Tags werden dadurch sicher verstärkt, aber schau dir mal die Streuung von Seiten mit mehr als 100 oder 500 Bookmarks an, da taggt zumindest die Hälfte mit sehr eigenem Vokabular. Recommended sind bei del.icio.us ja zuerst einmal die Tags, die man selbst schon einmal verwendet hat und die für das jew. Link eben auch schon vergeben wurden und nicht die populären.

  4. Wie gesagt, ich lehne das Taggen auch nicht in Bausch und Bogen ab. Ich nutze Flickr und del.icio.us ja selbst ganz gerne. (Dass die Vorschlagslisten bei del.icio.us vor allem aus den eigenen Tags bestehen, war mir noch gar nicht aufgefallen, das ist natürlich ein Unterschied.)

    Ich finde einfach nur, dass das System auch seine Grenzen hat. Ganz banal: Wenn ich bei Flickr oder del.icio.us nach etwas suche, finde ich den Wust an Tags oft auch eher hinderlich, der Aufwand ist nicht geringer, als wenn man einen herkömmlichen Katalog durchforstet, im Gegenteil. Manchmal haben Schuhkartons auch was für sich: Wenn ich weiß, wie die sortiert sind und wo welcher Karton steht, finde ich mich da im Zweifel schneller zurecht.

    Was die Dinge angeht, die unter den Tisch fallen könnten: Das muß man eher als Frage verstehen. Was passiert mit Dingen, auf die man sich nicht einigen kann? Bleiben die als remaindered tags weiter im Umlauf? Muß ich auf etwas verzichten, wenn ich auf das tag dazu verzichte? Da müßte man sich dann mal überlegen, welche Art von Interaktionen und Kommunikationen durch Folksonomien gesteuert werden könnten, und wie das dann abläuft.

    Was das Technorati-Beispiel angeht: Wie gesagt, ich sage ja nicht, dass Tags nicht funktionieren. Aber ein Argument für Folksonomien ist ja, dass sie wesentlich authentischer und spontaner sind als die herkömmlichen Klassifizierungssysteme. Das stimmt aber nicht mehr, wenn ich versuche, bestimmte Tags und Memen zu bedienen: Dann schreibe ich nur noch dem hinterher, was andere als Zeitgeist vorgeben – Tagmaschinenoptimierung.

    Es ist ja kein Zufall, dass das Thema auch in der Werbebranche so große Resonanz findet, weil man da einmal schneller irgendwelche Zeitgeistigkeiten abhorchen kann, und es wird sicher auch Versuche geben, Blasen in der Tagcloud künstlich aufzublähen. Einige Guerilla-Marketing-Aktivitäten und die ersten Spam-Tagger probieren das ja schon.

  5. […] Tagging gilt als eines der Bauelemente des Web 2.0: Zur Idee des sozialen Netzes gehört die von der Folksonomie, und dabei vor allem die Idee, dass Strukturen auch dann funktionieren können, wenn sich nicht objektiv und hierarchisch geordnet sind, sondern subjektiv und disparat. Nun gibt es an dieser Behauptung mehr oder weniger heftige Kritik, die ja auch hier schon formuliert worden ist. Da kommt nun ein Artikel im Online-Magazin dlib gerade recht, der die Pros und Contras recht kompakt referiert, ein paar Lösungsansätze vorstellt und am Ende zu der Pointe kommt: Bitte nicht aufräumen – gerade das Chaos ist der Sinn der Veranstaltung. […]

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