Die Terrils von Lüttich


Terril du Gosson

– Sagen Sie, Monsieur Goffin, wohin führen Sie uns? Wohin genau?

– Nur bis an die Grenzen meines Territoriums.

– Und dann?

– Dann folgt ihr einem Stollen, der auch bis an den Fuß der Halde Belle-Vue führen wird, die oberhalb von Coronmeuse liegt, am Ortseingang von Herstal. Und dann müßt ihr nur noch zu Fuß bis nach Haccourt laufen, ins Land der Hexen …

[…]Die zwei Brüder gingen in den Stollen zurück und das Tor schloß sich hinter ihnen. Die Silhouette von Hubert Goffin ließen sie nicht aus den Augen. Der marschierte als Führer vorneweg durch den Stollen und begann dabei mit einer merkwürdigen Ortsführung.

– Wir kommen hier in der Nähe der Stollen von L’Espérance 3 vorbei, dann an Murebure und der Zeche Piron. Dort entlang geht es zur Zeche Gosson I, hier drüben zu der von Horloz, und noch ein Stückchen weiter erreicht man die Zeche Braconnier… Dieser große Tunnel links von Euch führt in den Mönchswald, und der hat wiederum eine Verbindung zur Zeche Bar, zum Vogelfeld und zur Zeche Xhorre…

– Aber das ist ja riesig groß ! bemerkte Adrien.

– Dieses Labyrinth wird von den Geistern all der Bergarbeiter erbaut und unterhalten, die seit dem 12. Jahrhundert in den Bergwerken von Lüttich ums Leben gekommen sind … ihr müßt Euch vorstellen, dass hier Tausende in völliger Stille arbeiten.

Der Tunnel führte links bergab. Unten angekommen, mußte die Gruppe an einer Mauer entlang eine Wasserlache passieren, bevor der Stollen wieder nach oben führte.

– Wenn ihr hier nach rechts geht, kommt ihr nach Naimette und Xhovémont. Dahinter gibt es einen Ausgang am Fuß der Halde Sainte-Barbe et Tonne.

– Aber wozu all diese Tunnels? Alle Leute sagen, dass die Stollen der Bergwerke komplett eingestürzt oder überflutet sind! entgegnete Laurent.

– Die Geister wollen die Gräber ihrer Schwestern und Brüder aus allen Jahrhunderten wiederfinden und pflegen. Diese Gemeinschaft ist mittlerweile sehr wichtig geworden.

(aus Alain Voisot, Les nuton de Condroz)

Ich hatte vor einigen Wochen in Lüttich zu tun, und dabei fiel mir dieses Buch in die Hände: Les nutons de Condroz, deutsch etwa „Die Kobolde des Condroz“, was wiederum der Name eines Landstrichs südwestlich von Lüttich ist. (Wenn Ihnen der Wallonische Pfeil was sagt: Der findet zum großen Teil dort statt.) Das Buch gehört ins unübersehbare Feld regionaler Belletristik, in diesem Fall kein Heimatkrimi oder historischer Roman, sondern eine Märchenerzählung, in der einige Ereignisse und Gestalten aus der Geschichte der Provinz Lüttich eine Rolle spielen. Es ist ganz charmant geschrieben und nett zu lesen, besonders hübsch fand ich aber die Passage, aus der der zitierte Abschnitt stammt: Da wird die verschwundene unterirdische Welt des Bergbaus im Lütticher Revier zu einem hauntologischen Mikrokosmos, der entfernt an das Elysium der Dichter in Arno Schmidts Tina erinnert – eine melancholische Welt, in der das Leben nach dem Tod kein Privileg ist, sondern eine Bürde.

Terril de Sainte-Barbe et Tonne

Hubert Goffin, der Reiseleiter in dieser unterirdischen Welt, gehört ihr selbst an: Der historische Goffin arbeitete Anfang des 19. Jahrhunderts im Bergwerk von Beaujonc und wurde zum Volksheld, als er während eines katastrophalen Wassereinbruchs freiwillig in der Mine zurückblieb, um eingeschlossene Kumpel in Sicherheit zu bringen. Siebzig von über 120 Kumpeln wurden gerettet, darunter auch Goffins zwölfjähriger Sohn, der sicher nicht der einzige Minderjährige in den Stollen war. Der Charme der zitierten Passage resultiert auch aus der Auflistung der Namen, die durchweg so klingen als ob sie immer schon als Bezeichnung mythischer Orte gedacht wären: Espérance 3, Horloz, Xhorre, Xhovemont. Zwei Bergehalden (terrils auf französisch) erwähnt der Text außerdem: Die Halde Belle-Vue am Ufer der Maas, und die Halde Sainte-Barbe et Tonne im Westen von Lüttich.

Wenn ich in Lüttich bin, nehme ich gerne die Gelegenheit wahr, auf dem einen oder anderen dieser künstlichen Berge spazieren zu gehen. Das ist nicht immer so einfach wie etwa im Ruhrgebiet, wo Halden inzwischen zu aufwändigen Landschaftsbauwerken oder ikonographischen Landmarken gestaltet werden. Von den Halden rings um Lüttich sind nur wenige wirklich erschlossen und mit befestigten Wegen, Aussichtspunkten oder Hinweisschildern möbliert. Dafür haben sie unleugbar den romantischen und melancholischen Reiz, den Relikte, die sich selbst überlassen werden, immer besitzen: Viele Gipfel sind zu dicht bewachsenen und fast undurchdringlichen Dschungeln geworden, an manchen Stellen finden sich noch die rostigen oder verfallenen Reste industrieller Anlagen, Wege und Trampelpfade laufen nur sporadisch und ungeplant durchs Terrain. Die Terrils sind aber oft auch prekäres Gelände mit steilen und nicht unbedingt stabilen Abhängen. Das bekamen vor gut zehn Jahren die Nachbarn des Terril de la Petite Bacnure zu spüren, als sich eine Flanke des Berges in Bewegung setzte und der resultierende Erdrutsch erheblichen Sachschaden anrichtete.

Terril d'Argenteau

Es gibt hier und da einige Versuche, aus den Terrils mehr zu machen und touristische, umweltschützerische oder museale Konzepte zu entwickeln. Im Rahmen eines EU-Projekts sind einige Terrils mit befestigten Wegen und Markierungen möbliert worden, außerdem gibt es den Sentier des terrils, einen Fernwanderweg, der von Lüttich westwärts zu den Kohlerevieren von Namur, Charleroi und Mons führt. Einige Bürgerinitiativen bieten naturkundliche und historische Führungen an. Angeblich prüft sogar die UNESCO, ob die Transterrilienne, wie man die Kette der Bergehalden zwischen Mons und Lüttich inzwischen getauft hat, als (freilich etwas lückenhaftes) künstliches Mittelgebirge weltkulturerbewürdig ist. Wesentlich häufiger sind aber die Spuren informeller Nutzung durch Hundebesitzer, Mountainbiker, Geocacher oder sonstige Liebhaber städtischer Wildnisse.

Wer diese postindustriellen Landschaften selbst einmal erkunden möchte: Ich habe im Folgenden mal eine kleine, kommentierte Liste von Lütticher Terrils zusammengestellt, deren Besuch mir aus dem einen oder anderen Grund besonders lohnenswert erscheint. Die Überschriften sind jeweils auf den entsprechenden Kartenausschnitt bei Google Maps verlinkt. Ein paar Bilder von den genannten und ein paar ungenannten Terrils gibt es hier.

Terrils de Bernalmont et de Belle-Vue

Bernalmont und Belle-Vue

Zwei weithin sichtbare Halden, die von der Innenstadt aus relativ einfach zu erreichen sind. Sie überragen das linke Maasufer oberhalb des Stadtteils Coronmeuse, in der Nähe der alten Messehalle und quasi vis-à-vis vom Beginn des Albertkanals. Am besten nähert man sich den Halden von Norden, etwa über die kleine Rue des Petites Roches, die sich m.W. schon auf dem Gemeindegebiet von Herstal befindet. Herstal hat mit der Voie des botîs einen beschilderten lokalhistorischen Wanderweg angelegt, der auch die beiden Halden passiert und über eine Art Sattel zwischen den Gipfeln hindurchführt. Der Weg hat seinen Namen übrigens von den boteresses: Lastträgerinnen, die mit speziellen, am Rücken und der Stirn befestigten Körben die Kohle von den Minen bis nach Maastricht schleppten.

Blick vom Terril Belle-Vue

Der Bernalmont ist die westliche und höhere der beiden Halden, aber der Aufstieg ist recht beschwerlich und der Gipfel so stark bewachsen, das man von oben höchstens im Winter was sehen kann. Belle-Vue ist wesentlich niedriger, spärlicher bewachsen und bietet – ganz wie es der Name verspricht – einen der spektakulärsten Überblicke über die Lütticher Innenstadt, den Hafen und das unmittelbare Umland.

Terril de la Petite Bacnure

Terril de la Petite Bacnure

Bacnure ist ein Begriff aus dem lokalen Dialekt und bezeichnet, so weit ich weiß, einen senkrecht in die Tiefe getriebenen Stollen. Die Halde liegt nur wenige hundert Meter von Bernalmont und Belle-Vue entfernt. Sie ist überhaupt nicht erschlossen und eigentlich auch nicht öffentlich zugänglich. (Worauf allerdings vor Ort weder Absperrungen noch Schilder hinweisen.) Das mag zum einen mit der Unsicherheit des Geländes zusammenhängen – hier ereignete sich der oben erwähnte Erdrutsch, dessen Auswirkungen vor allem an der Südflanke des Berges noch deutlich zu sehen sind – , zum anderen damit, das die Halde noch brennt: Wer es schafft, die steilen und unwegsamen Hänge bis zum Gipfel hochzukraxeln, wird dort einige Fumarolen entdecken, kleine Rauchfähnchen, die auf brennende Kohlereste im Inneren der Halde hinweisen. Die Wärme sorgt auch für ein besonderes Mikroklima und damit für eine besonders dichte und vielfältige Vegetation – die vielen Brombeerbüsche machen den Weg durchs Gelände auch ziemlich schmerzhaft. Aussichtspunkte gibt es wegen des dichten Bewuchses nur wenige, aber vom Südosthang der Halde hat man einen ganz reizvollen Blick.

Angeblich gibt es Pläne zur Beseitigung der Halde: An der Südseite ist gerade ein Neubaugebiet entstanden, und das soll wohl auf das Areal der Halde selbst ausgedehnt werden. Dagegen formiert sich aber auch schon Protest: Einige Anrainer möchten ihre Halde durchaus behalten.

Terril de la Batterie

Terril de la Batterie

Diese Halde liegt nur wenige Kilometer westlich von Bacnure und Bernalmont, aber in einem fast ländlichen Umfeld, inmitten von Feldern und Wiesen. Dieser Teil der Stadt scheint sich ohnehin sehr unregelmäßig entwickelt zu haben: Die Bebauung ist lückenhaft, dazwischen gibt es viel Platz für Gärten, Wiesen und Brachflächen, und die Zeit scheint in einzelnen Sträßchen noch in den Siebzigern oder Achtzigern stehengeblieben zu sein.

Vom Terril de la Batterie kann man sich einen guten Überblick über die Gegend verschaffen. Es gibt zahlreiche kleine Pfade durchs Haldengelände, aber den einfachsten Zugang hat man von der südwestlichen Seite, etwa von der Ecke des Boulevard Henri-Denis und des Sentier Matraifosse. Von hier führt ein gut begehbarer Pfad bergaufwärts bis zum Gipfel des Spitzkegels. Oben rostet noch ein Rest der alten Förderanlage for sich hin. Auch auf dieser Halde hat sich dichter Wald gebildet, aber der Südhang ist nur spärlich mit Birken bewachsen und der Regen hat tiefe Rinnen im grauschwarzen Boden ausgewaschen. Von hier aus überschaut man vor allem die Hochfläche im Westen Lüttichs, aber auch Teile der Innenstadt und sogar Calatravas Bahnhof sind von hier aus sichtbar.

Terril du Gosson

Maison des Terrils

Eines der wenigen umfangreicher erschlossenen Haldengelände. Es liegt in Saint-Nicolas, einem Kleinstädtchen westlich von Lüttich. Beim Terril du Gosson handelt es sich nicht nur um eine Halde, sondern durchaus schon eine richtiggehende „Haldenlandschaft“ mit zwei separaten Hügeln (Gosson 1 und 2), deren Form und Aussehen durchaus bewußter gestaltet zu sein scheint als das bei den anderen Terrils der Fall ist. Hier liegt auch das Maison des Terrils, ein hübsches Informationszentrum zur Geschichte, Fauna und Flora der Bergehalden, das in einem alten Betriebsgebäude untergebracht wurde. Außerdem führt ein RAVel, ein Radweg auf einer stillgelegten Bahnlinie, zwischen den Gipfeln hindurch. Die Gossonhalden sind ein Areal, auf dem man gut einen ganzen Tag verbringen kann: Die Hügel sind nicht ganz so dicht bewaldet wie andere Terrils, und die kargeren Hänge haben bisweilen fast ein exotisches Wild-West-Flair. Es gibt wesentlich mehr Möglichkeiten, den Blick ins Umland schweifen zu lassen: Zu sehen bekommt man hier vor allem die westlichen Vororte von Lüttich, Kommunen wie Saint-Nicolas, deren Straßenzüge sich wie sanfte Wellen über die letzten Ardennenausläufer ziehen, während das Gelände nach Norden, in Richtung Flandern, schon deutlich flacher wird. Ab und an stolpert man noch über ein paar Betonfundamente oder sonstige Reste der industriellen Vergangenheit, außerdem ist das Gelände mit ein paar Skulpturen dekoriert.

Terril du Gosson

Ein kleines Stückchen weiter nördlich befindet sich mit dem Terril L’Esperance eine weitere Halde mit schöner Aussicht, deren Gipfel durch einen befestigten (aber etwas vernachlässigten) Treppenweg erschlossen wurde.

Terril du Hasard

Terril du Hasard

Das ist der Mont Ventoux des Lütticher Reviers: Ein windiger und weithin sichtbarer Höhepunkt der Landschaft, mit einer wirklich spektakulären 360-Grad-Rundsicht. Der Hasard liegt schon einige Kilometer östlich von Lüttich, nahe der Autobahn A3 beim Städtchen Fléron. Unmittelbar zu seinen Füßen verläuft einer der schönsten Radwege der Gegend, der auf einer stillgelegten Bahnstrecke von Hombourg (nicht weit von Aachen) nach Lüttich verläuft und unter anderem das beeindruckende Fort Battice passiert. Verkehrsgünstig liegt die Halde also, aber nach oben zu kommen, ist gar nicht so einfach: Die Hänge sind an vielen stellen ausgesprochen steil oder durch einige private Anwesen versperrt. Den besten Zugang findet man wohl in der Rue de la Vaulx in der kleinen Ortschaft Retinne, über den Parkplatz gegenüber der Rue de la Briqueterie. Hier führt ein gut erkennbarer Weg bergan bis knapp unter den kahlen, tiefschwarzen Spitzkegel der Halde. (Man kann auch versuchen, über die an sich ganz gut zugängliche Nordseite hochzukommen, aber das Terrain ist hier sehr abschüssig und nicht unbedingt stabil.)

Auch auf Hasard rosten die Überreste der alten Förderanlagen vor sich hin, aber das Reizvollste ist hier oben ohne Zweifel der Rundblick. Bei gutem Wetter hat man eine atemberaubende Fernsicht nach Lüttich (der Bahnhof ist auch von hier gut zu erkennen), über Ardennen, Eifel, Hohes Fenn, Dreiländereck und Limburg. Es gibt kaum einen besseren Ort, um die Provinz Lüttich in den Blick zu nehmen. Kein Wunder, dass wohl auch immer mal wieder darüber diskutiert wird, diesen Terril zu erschließen und besser zugänglich zu machen, aber noch ist nicht viel daraus geworden. Das Gipfelpanorama hat man meistens für sich allein, nur ab und zu krabbeln ein paar Dorfjugendliche mit ihren Bikes hier herum.

Terril du Hasard

Lohnenswert ist auch ein Abstecher zum Terril du Bas-Bois, der nur zwei Kilometer südöstlich, direkt an der Thalys-Strecke Köln-Paris, liegt. Nicht unbedingt wegen der kleinen Halde – die ist nur ein Hügelchen von grade mal 1 Hektar – sondern weil hier eines der wenigen noch erhalten gebliebenen Fördergerüste steht (die hier seltsamerweise belle-fleur genannt wurden).

Terril d’Argenteau

Terril d'Argenteau

Diese Halde heißt bisweilen auch Terril de Trembleur oder Argenteau-Trembleur, aber der bessere Name wäre vermutlich Blegny-Mine. Die Halde liegt direkt neben dem gleichnamigen alten Bergwerk, das inzwischen zu einem bergbaugeschichtlichen Museum und Informationszentrum umgestaltet worden ist (wovon es in Belgien erstaunlicherweise nicht sehr viele gibt). Man kann hier noch alte Werksanlagen besichtigen und sogar in die Stollen einfahren, und es gibt einen netten Rundweg mit Informationstafeln. Auch das Gerüst der Förderanlage, die den Abraum zur Halde aufschüttete, gibt es noch, wenn auch in einem arg mitgenommenen Zustand. Ein Rundweg führt auf die Halde hinauf und zu einer Aussichtsplattform. Der Ausblick ist nicht ganz so spektakulär wie von der Hasard-Halde, aber reizvoll genug, und ein paar Schautafeln erklären dazu, was man hier eigentlich sehen kann. Ein reizvolles, aber möglicherweise nicht verbindliches Feature scheint außerdem noch die Musik zu sein, die mit blechernem Scheppern aus den Lautsprechern am Minengelände dröhnt. Die beiden Male, die ich hier war, lief ein seltsam nostalgischer Soundtrack aus New Wave und Post Wave der 80er – Echo & The Bunnymen, The Cure, frühe Smiths. Ich hätte ja gerne gewusst, ob das eine Anspielung auf die Zeit des letzten heroischen Arbeitskampfs im Bergbau sein sollte, hab mich dann aber doch nicht getraut, zu fragen.

Blegny-Mine

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